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Notenbanken in der Zwickmühle

Michael Kordovsky | Börsen-Kurier

Schon die Andeutung einer Normalisierung des Zinsniveaus versetzt die Bondmärkte in Aufruhr.

Jahrzehntelang war ein Zusammenhang zwischen Inflation und Zinsen gut zu erkennen. Doch seit der Finanzkrise 2008/09 ist dieser Mechanismus außer Kraft gesetzt. Im April 2015 drehte dann der 3-Monats-Euribor ins Negativterrain. Und noch im selben Jahr sprach kein geringerer als der Chefvolkswirt der Bank of England, Andrew Haldane, vom niedrigsten Zinsniveau seit 5.000 Jahren. Immer mehr gewöhnten sich Anleger daran, dass rund zwei Drittel des emittierten Volumens europäischer Staatsanleihen Negativrenditen aufweisen. Die Staaten bekommen Geld fürs Schuldenmachen, während die Gläubiger ihren Schuldnern die Zinsen dafür bezahlen. Wäre es nicht schon längst Realität, könnte man meinen, es entspränge der Phantasie eines Leopold von Sacher-Masoch (ein österreichischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, auf den der Begriff Masochismus zurückgeführt wird, Anm.).

Verflechtung von Staatsfinanzen und Geldpolitik

Die größten Megaprogramme von Staaten und Notenbanken kamen mit der Corona-Krise und die Anleger haben sich dauerhaft an die Gelddruckerei-Droge gewöhnt, sodass jede Andeutung einer Änderung die Märkte in Panik versetzen könnte. Die Notenbanken Japans, der USA und der Eurozone können sich nämlich aussuchen, ob sie weiterhin monatlich Staatsanleihen aufkaufen, um die Renditen niedrigzuhalten und somit die Staatshaushalte zu entlasten, damit die Regierungen im Notfall mit weiteren Konjunkturprogrammen einschreiten können. Oder ob sie ihre ultralockere Geldpolitik zurückfahren und einen Crash der Staatsanleihen, Rating-Verschlechterungen der Staaten infolge höherer Zinsaufwendungen, Sparprogramme und Steuererhöhungen riskieren. Letzteres wäre deflationär, während die jüngste Ausweitung der Geldmenge inflationär in Form von Asset-Inflation, vor allem steigender Immobilienpreise, war. In den vergangenen 14 Jahren (per 7.10.) wuchs in den USA die Bilanzsumme der Fed um 17,5 % p.a. und die Geldmenge M3 weitete sich von Juni 2008 bis Juni 2021 um 7,8 % p.a. aus. Die EZB hielt per 1. Oktober 2021 alleine aus dem „Public Sector Purchase Programme“ (PSPP) öffentliche Anleihen im Volumen von 2,45 Bio Euro. bzw. 21,5 % des BIP der Eurozone im Jahr 2020. Daraus resultieren auch hohe Wertverlustrisiken für die EZB. Notenbanken und Staaten werden somit zu einer zusammengeketteten Schicksalsgemeinschaft.

Obwohl im Euroraum die Inflation bereits auf 3,4 % und in den USA zwischenzeitlich sogar auf 5,4 % stieg, haben die Notenbanken noch nicht an der Zinsschraube gedreht. Zu groß ist das von der höchsten Staatsschuld der Geschichte in Friedenszeiten ausgehende Risiko für die Finanzmarktstabilität, denn: Von 2000 bis 2020 stieg laut IWF die Staatsschuld der entwickelten Volkswirtschaften von 69,7 auf 122,5 % des BIP. Die Staatsschuld der USA stieg von 53,1% im Jahr 2001 auf für 2020 erwartete 127,1 % des BIP, verglichen mit ca. 119 % im Jahr 1946, während unmittelbar vor dem ersten Ölschock 1973/1974 die US-Staatsverschuldung lediglich 32 % des BIP betrug. Würden sich in den USA für 100 % des BIP die Zinsen nur um 2 %-Punkte verteuern, dann würde dies den Staatshaushalt um zusätzliche 2 % p.a. belasten und entsprechende Steueranhebungen zur Gegenfinanzierung erfordern.

Aktuelle Verunsicherung

Von diesen Hintergrund aus betrachtet waren folgende Statements von Fed Chairman Jerome Powell vor einem Senatsausschuss für zahlreiche Marktteilnehmer bereits starker Tobak: „Ein Anstieg der Preise und Einstellungsschwierigkeiten nach der Corona-Krise könnte länger anhalten als erwartet. Sollte sich die Inflation verfestigen, werde die Fed sicherlich reagieren und ihre Werkzeuge einsetzen.“ In ihrer jüngsten Prognose gehe die Fed von einer Jahresinflation von 4,2 % bis Jahresende 2021 aus. Eine weitere Aussage Powells, die für Verunsicherung sorgt, wäre: „Der Prozess des Reopenings der Wirtschaft ist einzigartig. Dabei können aber Engpässe oder Pannen beim Anwerben von Personal auftreten, die größer sind und länger dauern als ursprünglich vermutet.“ Der neue Ton der Fed verstärkt die Erwartung der Märkte, dass ein Ende der ultralockeren Geldpolitik unmittelbar bevorstünde und womöglich bereits 2022 erste Leitzinsanhebungen kommen könnten. 

Entsprechend schnellten die Staatsanleihenrenditen am langen Ende nach oben: Von 14. September bis 8. Oktober stiegen die Renditen zehnjähriger Treasuries von 1,28 auf 1,61 % und auf Monatssicht verteuerten sich sogar die Renditen deutscher Bundesanleihen um 21 Basispunkte auf nur noch minus 0,15 %. In Europa diskutieren mehrere Euro-Notenbank-Chefs über ein Ende der Corona-Hilfen, während im Offenmarkt-Komitee der Fed die Tapering-Debatte schon längst entbrannt ist. Entsprechend preisen die Fed-Fund-Futures bereits eine frühere erstmalige Leitzinsanhebung der Fed ein: Noch vor wenigen Wochen vermutete man die Fed-Sitzung am 14. Dezember 2022. Mittlerweile sollte die Leitzins-Wende bereits am 21. September 2022 vollzogen werden, und zwar mit einer erwarteten Wahrscheinlichkeit (per 9.10.) von 57,3 %. Noch vor einem Monat preisten die Futures lediglich eine Wahrscheinlichkeit von 28,1 % ein.

Fazit

Eine Normalisierung des Zinsniveaus im Sinne einer langjährigen Rückkehr zum Mittelwert (Mean-Reversion) ist mit jeder Menge teils deflationärer Nebenwirkungen verbunden, weshalb die Notenbanker diesen Zeitpunkt immer weiter hinauszuzögern versuchen. Wie ernst es dieses Mal ist, bleibt abzuwarten. Denn ausgehend von China und der Corona-Delta-Variante kommen neue Abschwung-Risiken auf die Märkte zu.

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