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„Goldlöckchen“ liegt im Sterben

Es gibt mehrere Szenarien. Nouriel Roubini warnt jedoch vor allem vor einer Überhitzung. Eine Analyse für den Börsen-Kurier.

Wie werden sich die Weltwirtschaft und die Märkte im nächsten Jahr entwickeln? Es gibt vier Szenarien, die auf die „milde Stagflation“ der letzten Monate folgen könnten.

Der Status Quo

Der Aufschwung in der ersten Jahreshälfte 2021 ist zuletzt einem deutlich langsameren Wachstum und einem Inflationsanstieg weit über dem 2-%-Ziel der Zentralbanken gewichen, was auf die Auswirkungen der Delta-Variante, auf Versorgungsengpässe sowohl auf den Güter- als auch auf den Arbeitsmärkten sowie auf Engpässe bei einigen Rohstoffen, Zwischenprodukten, Endprodukten und Arbeitskräften zurückzuführen ist. Die Anleiherenditen sind in den vergangenen Monaten gesunken, und die jüngste Kurskorrektur an den Aktienmärkten fiel bisher moderat aus, was vielleicht die Hoffnung widerspiegelt, dass sich die milde Stagflation als vorübergehend erweisen wird.

Die vier Szenarien hängen davon ab, ob sich das Wachstum beschleunigt oder verlangsamt und ob die Inflation anhaltend höher bleibt oder sich verlangsamt. Die Analysten an der Wall Street und die meisten geldpolitischen Entscheidungsträger gehen von einem „Goldlöckchen-Szenario“ aus, bei dem ein stärkeres Wachstum mit einer moderaten Inflation einhergeht, die mit dem 2-%-Ziel der Zentralbanken übereinstimmt. Dieser Auffassung zufolge ist die jüngste Stagflationsepisode weitgehend auf die Auswirkungen der Delta-Variante zurückzuführen. Sobald diese nachlassen, werden auch die Engpässe auf der Angebotsseite verschwinden, vorausgesetzt, es tauchen keine neuen virulenten Varianten auf. Dann würde sich das Wachstum beschleunigen, während die Inflation sinken würde.

„Alles paletti“

Für die Märkte würde dies eine Wiederaufnahme der „Reflation Trade“-Perspektive vom Anfang des Jahres bedeuten, als man hoffte, dass stärkeres Wachstum höhere Gewinne und noch höhere Aktienkurse stützen würde. In diesem rosigen Szenario würde die Inflation nachlassen und die Inflationserwartungen bei etwa 2 % verankert bleiben, die Anleiherenditen würden allmählich zusammen mit den Realzinsen steigen, und die Zentralbanken wären in der Lage, die quantitative Lockerung zurückzufahren, ohne die Aktien- oder Anleihenmärkte zu erschüttern. Bei den Aktien würde es zu einer Rotation von US-Märkten zu ausländischen Märkten (Europa, Japan und Schwellenländer) und von Wachstums-, Technologie- und defensiven Titeln zu zyklischen und Value-Aktien kommen.

Überbordendes Wachstum

Das zweite Szenario beinhaltet eine „Überhitzung“. In diesem Fall würde sich das Wachstum beschleunigen, während die Engpässe auf der Angebotsseite beseitigt werden, aber die Inflation würde auf einem höheren Niveau verharren, weil sich herausstellt, dass die Ursachen nicht vorübergehend sind. Da die nicht ausgegebenen Ersparnisse und die aufgestaute Nachfrage bereits hoch sind, würde die Fortsetzung der ultralockeren Geld- und Fiskalpolitik die Gesamtnachfrage noch weiter ankurbeln. Das daraus resultierende Wachstum wäre mit einer anhaltenden, über dem Zielwert liegenden Inflation verbunden und würde die Annahme der Zentralbanken widerlegen, dass der Preisanstieg nur vorübergehend ist.

Die Reaktion der Märkte auf eine solche Überhitzung würde davon abhängen, wie die Zentralbanken reagieren. Wenn die geldpolitischen Entscheidungsträger der realwirtschaftlichen Entwicklung hinterherhinken, könnten die Aktienkurse eine Zeit lang weiter steigen, während die realen Anleiherenditen niedrig bleiben. Die daraus resultierenden höheren Inflationserwartungen würden jedoch letztendlich die nominalen und sogar realen Anleiherenditen in die Höhe treiben, da die Inflationsrisikoprämien steigen würden, was eine Kurskorrektur am Aktienmarkt erzwingen würde. Verfolgen die Zentralbanken hingegen eine restriktive Geldpolitik und beginnen sie, die Inflation zu bekämpfen, würden die Realzinsen steigen, was die Anleiherenditen in die Höhe treiben und wiederum eine stärkere Kurskorrektur an den Aktienmärkten erzwingen würde.

Zu geringes Wachstum

Ein drittes Szenario ist eine anhaltende Stagflation mit hoher Inflation und mittelfristig deutlich geringerem Wachstum. In diesem Fall würde die Inflation weiterhin durch eine lockere Geld-, Kredit- und Fiskalpolitik angeheizt. Die Zentralbanken, die durch hohe öffentliche und private Schuldenquoten in einer Schuldenfalle gefangen sind, hätten Mühe, die Zinssätze zu normalisieren, ohne einen Crash auf den Finanzmärkten auszulösen.

Darüber hinaus könnte eine Reihe mittelfristig anhaltender negativer Angebotsschocks das Wachstum im Laufe der Zeit bremsen und die Produktionskosten in die Höhe treiben, was den Inflationsdruck weiter verstärken würde. Wie ich bereits an früherer Stelle erwähnt habe, könnten solche Schocks von der Deglobalisierung und von zunehmendem Protektionismus, von der „Balkanisierung“ der globalen Lieferketten, der demografischen Alterung in den Entwicklungs- und Schwellenländern, von Migrationsbeschränkungen, von der „Entkopplung“ zwischen China und den USA, den Auswirkungen des Klimawandels auf die Rohstoffpreise, Pandemien, Cyberkriegsführung und vom Backlash gegen die Einkommens- und Vermögensungleichheit herrühren.

In diesem Szenario würden die nominalen Anleiherenditen viel stärker steigen, während eine Entankerung der Inflationserwartungen eintritt. Und auch die realen Renditen wären höher (selbst wenn die Zentralbanken der realwirtschaftlichen Entwicklung hinterherhinken), da ein rascher und volatiler Preisanstieg die Risikoprämien für längerfristige Anleihen in die Höhe treiben würde. Unter diesen Bedingungen würden die Aktienmärkte einer drastischen Kurskorrektur entgegensehen, die in einem Bärenmarkt münden könnte (was einen Kursrückgang von mindestens 20 % im Vergleich zum letzten Höchststand bedeuten würde).

Kein Wachstum mehr

Das letzte Szenario würde eine Wachstumsverlangsamung beinhalten. Eine schwächer werdende Gesamtnachfrage würde sich nicht nur als vorübergehender Schreck erweisen, sondern als Vorbote der neuen Normalität, insbesondere wenn die geld- und fiskalpolitischen Anreize zu früh zurückgefahren werden. In diesem Fall würden die geringere Gesamtnachfrage und das langsamere Wachstum zu einer niedrigeren Inflation führen, die Kurskorrektur an den Aktienmärkten würde die schwächeren Wachstumsaussichten widerspiegeln, und die Anleiherenditen würden weiter sinken (weil die realen Renditen und die Inflationserwartungen geringer wären).

„Überhitzung“ wahrscheinlich

Welches dieser vier Szenarien ist am wahrscheinlichsten? Während die meisten Marktanalysten und geldpolitischen Entscheidungsträger das Goldlöckchen-Szenario propagieren, befürchte ich, dass sich eher das Überhitzungsszenario abzeichnet. Angesichts der lockeren Geld-, Fiskal- und Kredit-politik von heute werden das Abebben der Delta-Variante und die Beseitigung der damit verbundenen Angebotsengpässe das Wachstum überhitzen und die Zentralbanken werden in der Klemme sitzen. Konfrontiert mit einer Schuldenfalle und einer anhaltend über dem Zielwert liegenden Inflation werden sie mit ziemlicher Sicherheit kneifen und der realwirtschaftlichen Entwicklung hinter-herhinken, selbst wenn die fiskalpolitischen Maßnahmen zu locker bleiben.

Wenn die Weltwirtschaft von einer Reihe anhaltender negativer Angebotsschocks getroffen wird, könnte es mittelfristig aber weitaus schlimmer kommen als zu einer milden Stagflation oder Überhitzung: eine ausgewachsene Stagflation mit viel geringerem Wachstum und höherer Inflation. Die Versuchung, den Realwert hoher nominaler festverzinslicher Schulden zu verringern, würde die Zentralbanken dazu verleiten, sich mit der Inflation zu arrangieren, anstatt sie zu bekämpfen und einen Zusammenbruch der Wirtschaft und des Marktes zu riskieren.

Aber die Schuldenquoten (sowohl die privaten als auch die öffentlichen) sind heute wesentlich höher als in den stagflationären 1970er-Jahren. Öffentliche und private Akteure mit zu hoher Verschuldung und viel niedrigerem Einkommen werden vor der Zahlungsunfähigkeit stehen, sobald die Inflationsrisikoprämien die Realzinsen in die Höhe treiben und die Voraussetzungen für die stagflationären Schuldenkrisen schaffen, vor denen ich gewarnt habe.

Auf Luft gebaut?

Das optimistische Szenario, das derzeit schon auf den Finanzmärkten eingepreist ist, könnte sich letztendlich als Luftschloss erweisen. Anstatt sich auf Goldlöckchen zu fixieren, sollten sich Wirtschaftsbeobachter an Kassandra erinnern, deren Warnungen ignoriert wurden, bis es zu spät war.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow, © Project Syndicate 1995 bis 2021. 

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