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Marktanalyse: Geduld ist die Kunst zu hoffen

Christoph Schultes

Die Korrektur an den globalen Aktienmärkten ist wahrscheinlich noch nicht abgeschlossen, die im November stattfindende US-Präsidentschaftswahl wirft ihren Schatten voraus, daneben verunsichert ein mögliches Scheitern der Verhandlungen zwischen EU und UK die Investoren. Thema Nummer 1 bleibt aber eindeutig COVID-19.

Nach der Berichtssaison zum 2. Quartal hat sich das Investoreninteresse wieder den Wirtschaftsdaten zugewendet. Die Märkte warten verzweifelt auf Indikatoren, die zuverlässige Aufschlüsse über das Ausmaß der neuerlichen Anstiege von COVID-19-Neuansteckungen und deren Auswirkungen auf die Wirtschaft geben. Diese Daten sind unerlässlich für die Gewinnschätzungen für Unternehmen, die ihrerseits aggregiert in die Bewertung der Aktienmärkte einfließen. Die Kurs-Gewinn-Verhältnisse der meisten Indizes befinden sich auf Rekordniveau und reflektieren einerseits die zurückgenommenen Gewinnerwartungen der Marktteilnehmer im Nenner, spiegeln aber andererseits die Hoffnung auf eine baldige Erholung wider, die im Kurs abgebildet ist.

Ein genauerer Blick auf die Entwicklung der Gewinnschätzungen lohnt sich, auch wenn der erste Eindruck etwas verstören könnte. Die Prognosen der Analysten wurden in den letzten zwölf Monaten signifikant nach unten revidiert, der Stoxx 600 Europe verzeichnete Kürzungen in Höhe von 43 % für das Geschäftsjahr 2020 und rund 26 % für 2021. Wie schwer es für einige Sektoren sein wird, sich zu erholen, zeigt ein Blick auf die Subindizes des Stoxx 600, wobei vier Branchen herausstechen und somit am meisten betroffen scheinen. Diese Liste führen wenig überraschend die Unternehmen der Reise- und Freizeitindustrie an, deren Gewinnerwartungen für 2021 um 72 % zurückgenommen wurde, und diesbezüglich die Sektoren Öl- und Gas (-52 %), Banken (-43 %) und Automobil (-41 %) deutlich hinter sich lassen.

Interessanterweise repräsentieren alle vier dieser durchaus prominent erscheinenden Sektoren zusammen aktuell nicht einmal 13 % der Marktkapitalisierung des Stoxx 600. Der mit Abstand am stärksten kapitalisierte Sektor des europäischen Leitindex ist – übrigens bereits seit Mitte 2018 – Healthcare, dessen 56 im Index vertretenen Unternehmen bereits fast ein Sechstel des Stoxx 600 repräsentieren. Healthcare zählt (zusammen mit Technologie und wenigen anderen Industrien) zu den Sektoren mit den langfristig attraktivsten Wachstumsperspektiven. Ein Grund, genau jetzt einzusteigen und auf europäische Aktien zu setzen?

Wir kommen noch einmal auf die aktuellen Bewertungen zu sprechen, die allerdings – aufgrund der nach wie vor eingeschränkten Visibilität – auf äußerst vagen Annahmen und in weiterer Folge auf wackeligen Gewinnschätzungen beruhen. Das KGV des Stoxx 600 basierend auf den Gewinnerwartungen für das laufend Geschäftsjahr beträgt momentan 22x. Selbst bezogen auf die Ergebnisprognosen für 2021 steht immer noch ein KGV von knapp 16x zu Buche, was ebenfalls deutlich über dem historischen Schnitt von knapp über14x liegt. Der amerikanische S&P wird wie gewohnt substantiell höher bewertet, die KGVs erreichen auch dort aktuell Rekordwerte von 25,5x (2020) und 20x (2021).

Die Bewertungen sind hoch, und preisen offensichtlich eine relativ zügige Erholung der Wirtschaft ein. Für die USA erwarten wir (Erste Group Research) heuer einen BIP-Rückgang von -4,3%, in der Eurozone eine Schrumpfung des BIP um -7,6%, das müssen die Volkswirtschaften erst einmal verdauen. Die Visibilität verbessert sich nur langsam, weswegen wir für das 4. Quartal am ehesten mit einer Seitwärtsbewegung der Aktienmärkte rechnen. Nur steigende Gewinne oder zumindest die Aussicht auf solche würden höhere Aktienkurse in unseren Augen rechtfertigen. Und auf diese müssen wir noch warten. Geduld ist gefragt, denn „Geduld ist die Kunst zu hoffen“ (Luc de Clapiers, Marquis de Vauvenargues).


Autor:
Mag. Christoph Schultes, MBA, CIIA
Erste Group Bank AG 
30. September 2020

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