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Die EZB muss sich erklären

Stefan Gerlach, Chefökonom der EFG-Bank in Zürich, über den Handlungsbedarf der Notenbank.

Der Gouverneur der finnischen Zentralbank, Olli Rehn, bekräftigte seine Forderung an die Europäische Zentralbank, ihr politisches Rahmenwerk einer längst überfälligen Überprüfung zu unterziehen. Der bevorstehende Führungswechsel bei dieser Institution – Christine Lagarde, seit 2011 geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds, wird Mario Draghi als Präsidentin nachfolgen – bietet eine erstklassige Gelegenheit, dieser Forderung nachzukommen.

Regelwerk schon alt

Als die EZB vor 20 Jahren gegründet wurde, formulierten die Zentralbanken die Einzelheiten ihrer politischen Rahmenwerke generell nicht allzu klar. Zu diesem Zeitpunkt war eine gewisse Uneindeutigkeit möglicherweise hilfreich, da sie Flexibilität bot, als die EZB ihre Tätigkeit aufnahm. Außerdem ermöglichte sie es Zentralbankern mit unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen, sich auf einen Rahmen zu einigen, obwohl man sich auf dessen Details vielleicht nicht verständigt hätte.

Allerdings hat sich die Welt seit damals erheblich verändert und die Öffentlichkeit verlangt nun mehr Klarheit. Aber wie kann die EZB 16 Jahre nach der letzten Überarbeitung ihres geldpolitischen Rahmenwerks dem nachkommen?

Neubewertung der Instrumente notwendig

Seit dieser im Jahr 2003 durchgeführten Überarbeitung musste die EZB aufgrund der globalen Finanzkrise und der anschließenden europäischen Schuldenkrise eine Vielzahl neuer politischer Instrumente einsetzen. Diese - vor allem in Deutschland höchst unbeliebten – Krisenmaßnahmen sind nur insoweit zu rechtfertigen, als sie wirksam waren. Das muss nun bewertet werden. Wie EZB-Ratsmitglied Rehn feststellte, sind darüber hinaus langfristige strukturelle Trends wie eine alternde Bevölkerung, niedrige langfristige Zinssätze und der Klimawandel zu berücksichtigen.

Zu unterschiedliche Meinungen

Eine wirksame EZB-Politik setzt voraus, dass die Mitglieder des EZB-Rates mit einer Stimme sprechen. Sie brauchen ein gemeinsames Verständnis der langfristigen Ziele Europas sowie der Stärken und Schwächen verschiedener politischer Instrumente. Und um die Rechenschaftspflicht zu stärken und eine kluge Entscheidungsfindung zu unterstützen, müssen sie in der Lage sein, die Details ihrer geldpolitischen Strategien so zu formulieren, dass die Öffentlichkeit sie auch verstehen kann.

Eine derartige Klarheit ist zuweilen schwer herzustellen, auch wenn es sich um die grundlegendsten Elemente der politischen Strategie der EZB handelt. Die Preisstabilität – das primäre Ziel der EZB - wird derzeit als „Inflation unter, aber nahe 2 %“ definiert. Erfüllt eine Inflation von 1 % diese Bedingung oder ist sie zu niedrig und verlangt daher stärkere geldpolitische Anpassung? Verschiedene Mitglieder des EZB-Rats würden diese Frage möglicherweise unterschiedlich beantworten und daher auch unterschiedliche Strategien unterstützen.

Gleiches gilt für die Fragen, ob das Inflationsziel der EZB symmetrisch ist – im Rahmen dessen die Behörden bei zu niedriger Inflation ebenso rigoros eingreifen wie bei zu hoher Inflation – und ob die Inflation über einen bestimmten Zeitraum oder zu einem bestimmten Zeitpunkt gemessen werden sollte. Wurde das Ziel erreicht, wenn die Inflationsrate über einen gewissen Zeitraum zwischen 0 und 4 %, aber im Durchschnitt unter 2 % liegt?

Inflation als Zankapfel

Aus der Antwort darauf ergeben sich bedeutende politische Auswirkungen. Wenn die Inflation über einen längeren Zeitraum gemessen wird, könnte die EZB mittelfristig eine etwas höhere Inflationsrate akzeptieren oder vielleicht sogar anstreben, um die überaus niedrige Inflation der letzten Jahre auszugleichen. Wenn die Öffentlichkeit glaubt, dass eine über den Zielvorgaben liegende Inflation wahrscheinlich ist, würde der erwartete Realzins sinken und so die Wirtschaft in Schwung bringen.

Freilich stellte Draghi in Reden und Pressekonferenzen fest, dass das Inflationsziel seiner Ansicht nach symmetrisch und 1 % Inflation zu niedrig seien. Überdies meinte er, dass die Inflationsrate „mittelfristig“ gemessen werden sollte. Es ist jedoch nicht klar, ob diese Ansicht im EZB-Rat breiten Zuspruch findet.

Umstrittener Anleihenkauf

Das Inflation Targeting ist allerdings nicht der einzige Bereich, in dem Unklarheiten eine effektive Politikgestaltung behindern und die Marktteilnehmer sich fragen, was sie zu erwarten haben. Auch das EZB-Programm der geldpolitischen Outright-Geschäfte (OMT) – im Rahmen dessen die EZB verspricht, Anleihen der Mitgliedstaaten der Eurozone auf Sekundärmärkten für Staatsanleihen zu kaufen – sorgt für erhebliche Unsicherheit.

Das OMT-Programm ist Draghis Instrument der Wahl, um sein 2012 geäußertes Versprechen einzulösen „alles Notwendige zu tun, um den Euro zu erhalten”. Allerdings war dieses Programm von Anfang an umstritten. Bundesbankpräsident Jens Weidmann – er war einer von Lagardes Hauptkonkurrenten um die EZB-Präsidentschaft – kritisierte das Programm in der Öffentlichkeit heftig. Doch das war vor sieben Jahren und das OMT-Programm wurde nie wirklich eingesetzt. Ist der EZB-Rat diesem Instrument noch verpflichtet? Oder ist es durch die Ereignisse der letzten Jahre – und die Veränderungen in der Zusammensetzung des Rates – obsolet geworden?

Gefahr: Rezession

Da die Staatsschulden in Griechenland und Italien immer noch zu hoch sind, die Eurozone sich nach wie vor in Gefahr befindet, in eine Rezession zu schlittern, die die jeweiligen Haushaltspositionen der beiden Länder massiv verschlechtern würde und die politische Situation in Italien so unbeständig wie eh und je ist, würde sich die Beantwortung dieser Fragen durchaus lohnen. Eine wie von Rehn geforderte Überprüfung würde die notwendigen Antworten liefern – und die EZB im Zeitalter einer neuen Führung auf solidere Beine stellen.

Stefan Gerlach ist Chefökonom der EFG-Bank in Zürich und ehemaliger stellvertretender Gouverneur der irischen Notenbank. Er war außerdem geschäftsführender Direktor und Chefökonom der Hong Kong Monetary Authority und Sekretär des Ausschusses für das globale Finanzsystem der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ). 

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier, © Project Syndicate 1995 - 2019

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